Das Zelluloid stirbt nicht

Tausendfach wurden analoge Filme abgeschrieben, totgesagt und als minderwertig verschrien. Trotzdem steht im Norden von Zürich bis heute die Firma Cinegrell, ein Labor für Kinofilme. Dieses stieg erst zum Niedergang der analogen Ära richtig ins Geschäft ein – und expandiert bald nach Berlin.

Aus dem Nichts beginnen sich Umrisse abzuzeichnen, dann Schattierungen, Flächen und schliesslich das fertige Bild. Wer einmal in einem Labor gestanden, die Wanne mit dem Entwickler geschwenkt und das schwarzweisse Bild auf dem Fotopapier entstehen gesehen hat, der vergisst diesen chemischen Zauber nie wieder. Wer einmal den Essiggeruch des Fixierers in der Nase hat, die grosse Stoppuhr ticken hört und
vom gleissenden Licht des Vergrösserers geblendet wird, der lernt eine neue, gleichsam uralte Welt kennen – die Welt der analogen Fotografie. Längst müsste sie untergegangen sein, ihr Ende wurde jedenfalls wieder und wieder vorhergesagt und dann doch in letzter Sekunde verschoben. Eingefleischte Amateur_innen und eigensinnige Unternehmer_innen halten sie am Leben, indem sie sich ganz einfach weigern, ihre Leidenschaft aufzugeben.

Zweifellos einer der grössten Anhänger analoger Bildgebungsverfahren ist Richard Grell. Im ersten Stock eines Geschäftshauses in Oerlikon führt er seine eigene Firma mit acht Angestellten. Mit der Cinegrell GmbH hat er ebendiese Leidenschaft zu seinem Geschäft gemacht; das Unternehmen ist auf analoges Fotografieren und Filmen spezialisiert. Aber auch auf Digitalisierungen und Restaurierungen, Postproduktion, Kameraverleih und überhaupt so ziemlich alles, was es braucht, um einen Film zu drehen.

Gebündelte Kräfte, gesammelte Erfahrung

Wer in der Saatlenstrasse vom vielbeschäftigten Richard Grell empfangen wird, taucht in einen unwirklichen Kosmos ein. Die Firma belegt eine verwinkelte Fläche im Gebäude, wie in einem Labyrinth geht es um Ecken herum, Korridore hinunter, durch das Treppenhaus und wieder um die Ecke, und hinter jeder Ecke tut sich ein neuer Teil von Grells Welt auf. Überall stehen hier Apparate aus der goldenen Zeit der Filmindustrie herum, viele davon sind im ganzen Land die letzten ihrer Art: Grell und seine Leute sind die Einzigen, die sie bedienen können. Hier sitzt das Personal hinter riesigen Schnittpulten und analysiert die Farbqualität eines Scans, hört Tonspuren ab oder repariert kleinste Beschädigungen auf alten Schätzen des Kinos. Dort stehen Bildschirme und Leinwände mit vergrösserten Bildern, die in allen nur erdenklichen Farben leuchten, von Kardinalrot über Eisblau bis hin zu Vanillegelb, Erdbraun und Eierschalenweiss. Und wieder anderswo wickeln surrende Maschinen Bänder auf Spulen, fertigen Kopien davon an oder tunken sie in Chemikalien. All das im Dienst eines einzigen Ziels: der bestmöglichen Bildqualität.

«Im High-End-Bereich ist unser Betrieb einzigartig im deutschsprachigen Raum», sagt Richard Grell, während er durch die Gänge führt. Alle anderen Anbieter_innen seien wegen der Digitalisierung eingegangen, und neue Betriebe gebe es keine, weil die Infrastruktur und das Wissen fehlten. Grell hingegen hat erst dann so richtig losgelegt, als bei den anderen die schwierigen Zeiten anbrachen. Angefangen hat er nämlich als Kameraverleiher in Räumen der Egli Film AG, einem chemischen Labor für Kinofilme. «Das war damals noch eine ganze Industrie. Alle Filme wurden analog gedreht, das brauchte Labore und Kopierwerke. Zudem projizierten die Kinos noch nicht digital und brauchten Vorführungsexemplare.»

Ende der Nullerjahre ging es dann aber rasant bergab mit diesem Wirtschaftszweig. «Der Bund hat beschlossen, die Kinos beim Wechsel auf digitale Projektoren zu unterstützen, da war für die Branche Schluss», erklärt Grell. Er aber hatte eine Idee. Er tat sich mit seinem Vermieter Michael Egli zusammen, um künftig alle Dienstleistungen vom Kameraverleih bis zur digitalen Postproduktion eines Films aus einer Hand anbieten zu können. Egli hatte sein Handwerk von der Pike auf gelernt und kannte das Geschäft seit Jahrzehnten, Grell verfügte über die notwendigen Kontakte in der Branche und eine Vision für die Zukunft. Die Fusion der Geschäfte sollte das Kapital beider Firmen zusammenführen: Die langjährige Erfahrung der Egli Film AG und den Unternehmergeist von Richard Grell. Dieses Konzept hat sich bewährt, Egli selbst arbeitet noch immer in seinen alten Geschäftsräumen, seine Expertise ist nach wie vor gefragt, und viele der Spezialgeräte stammen aus seinem alten Betrieb. Grell führt derweil die Geschäfte, und das mit Erfolg: Im Moment plant er eine Dependance in Berlin. Wer für sein Projekt Filmmaterial, einen Scanner oder Restaurator_innen braucht, kommt an Cinegrell je länger desto weniger vorbei.

Alles nur Fetisch?

Aber warum braucht es überhaupt noch Leute, die Kinofilme entwickeln und verarbeiten können? Die Antwort ist einfach: Es wird immer noch damit gedreht. Zum Beispiel hat Andrea Štaka ihren letzten Film «Mare» komplett auf 16mm-Film aufgenommen, und beim Dreh von Thomas Imbachs «Nemesis» kam eine 35mm-Kamera zum Einsatz. Zwei, drei neue Filme im Jahr, das klingt erst einmal nach wenig, ist für die Schweiz aber keine Selbstverständlichkeit. «Einen analogen Film finanziert zu bekommen, ist in der Schweiz praktisch unmöglich», sagt Richard Grell. Die Kosten betragen gegenüber digitaler Technik etwa einen Drittel mehr, wenn man höchste Qualität will. Auch darum möchte Grell ins Ausland expandieren: Der Schweizer Markt sei zu klein für eine so ambitionierte Firma wie seine.

Weil Film derart teuer ist, verwundert es nicht, dass die grössten Abnehmer_innen davon aus Hollywood kommen, wo die Budgets so hoch sind, dass auch fünf Franken pro Meter oder 150 Franken pro Aufnahmeminute noch drin liegen. Wenn ein Film wie «The Hateful Eight» von Quentin Tarantino ein Budget von über 60 Millionen Dollar bekommt, spielen die Kosten für das Kameramaterial nur eine untergeordnete Rolle. Selbst wenn das 65mm-Format, das bei diesem Western benutzt wurde, noch einmal deutlich teurer ist. Das Filmen mit grossen Spulen statt Festplatten ist zweifellos auch, aber bei Weitem nicht nur, ein Fetisch finanzkräftiger Hollywoodstars wie Tarantino, Christopher Nolan oder Wes Anderson. Die Zürcher Professorin für Filmwissenschaften Barbara Flückiger sieht durchaus auch praktische Gründe, die für analoge Technik sprechen. «Gerade ein 65mm-Kameranegativ ist technisch in mehrfacher Hinsicht interessant. Erstens enthält es sehr viel Bildinformation. Man kann es also in naher oder fernerer Zukunft mit neuen Technologien wieder scannen, zum Beispiel in 8K oder mit HDR-Technik. Zweitens ist Film als Speichermedium wesentlich stabiler als digitale Formate. Man kann die Filmrollen einfach ins Regal stellen, bei optimalen Lagerbedingungen halten sie sich sehr lang.»

Komplizierter und einfacher zugleich

Die meisten Filmschaffenden, die sich für einen analogen Arbeitsablauf entscheiden, werden aber weniger an die Archive denken als an die Vorführungen im Kino. Für sie steht im Vordergrund, wie der Film aussieht, wenn er über die Leinwand geht. Filmemacher_innen suchen einen spezifischen Look, den sie von den Klassikern der Filmgeschichte kennen, und der dank sozialen Medien wie Instagram und den dort beliebten digitalen Filtern wieder in Mode gekommen ist. Sie suchen nach einer Ästhetik, die die Filmgeschichte während der letzten Jahrzehnte massgeblich geprägt hat, wie Pierre Mennel bestätigt. Mennel ist Kameramann und Professor an der Zürcher Hochschule der Künste und sagt: «Was die Filmhersteller gemacht haben, war enorm stilprägend. Man konnte schon beeinflussen, wie die Bilder aussahen. Aber die Möglichkeiten waren begrenzt und mit Aufwand verbunden. Darum haben die Emulsionen von Kodak und Fuji, noch früher Technicolor, wesentlich mitbestimmt, wie die Bilder aussahen und wie die Zuschauer die Welt aus dem Kinosessel wahrnahmen.»

Dass Filmschaffende an die ästhetischen Traditionen von einst anschliessen möchten, liegt auf der Hand, gerade bei einem Regisseur wie Tarantino, der wie kein anderer dem alten Hollywood huldigt. Es war also nicht übertrieben – oder wenigstens nur ein bisschen – als Tarantino in einem Interview mit der «Süddeutschen Zeitung» ankündigte, dass er nie einen digitalen Film machen wolle: «Wenn der Tag kommt, an dem es mir egal ist, ob ich auf Zelluloid oder digital drehe, weiss ich, dass ich aufhören muss. Fuck!»

Für Leute wie Tarantino ist Zelluloid ein Synonym für Authentizität, auch wenn Kinofilm längst nicht mehr aus Zelluloid gemacht wird. Regisseur_innen wollen Filme machen können, die aussehen wie die Filme ihrer Vorbilder. Das liesse sich zwar auch mit digitalen Tricks erreichen, aber gerade das stellt sich als ausserordentlich schwierig heraus. «Es ist paradox», sagt Pierre Mennel. Einerseits sei der Dreh mit analogen Mitteln aufwendiger als mit digitalen, andererseits sei es noch aufwendiger, einen digitalen Film so aussehen zu lassen, als wäre er analog aufgenommen worden. «Theoretisch ist das zwar ohne Weiteres machbar. In der Realität ist es allerdings so zeitintensiv, dass es doch wieder einfacher ist, den Film direkt analog zu drehen.» Der Grund dafür: Besonders, was das Bildkorn und die Farbumsetzung angeht, verhält sich analoger Film sehr organisch: Film reagiert nicht auf jede Beleuchtungssituation gleich, und Bildeffekte treten auch nicht linear über das ganze Bild hinweg auf. Ein digitaler Filter tut aber genau das: Er verteilt einen Effekt gleichmässig über das ganze Bild und auf die ganze Sequenz. Im Vergleich zum Original erzeugt das einen unnatürlichen Eindruck.

Charakter lässt sich nicht nachahmen

Mennel hat in Studien untersucht, ob das Publikum einen Unterschied feststellt, wenn es denselben Film einmal analog und einmal pseudoanalog vorgeführt bekommt. Die wenig überraschende Erkenntnis: Die Zuschauenden können die Technologien nicht voneinander unterscheiden. Aber eben, die digitalen Tricks sind zu teuer und zu aufwendig. Wer also den Look von Kodak Ektachrome will, muss Kodak Ektachrome durch seine Kamera laufen lassen. Zumindest noch im Augenblick. Die Technik entwickelt sich allerdings in rasantem Tempo. Irgendwann dürfte es also möglich sein, dass auch digitale Sensoren so organisch auf Licht reagieren, wie chemisches Filmmaterial dies tut. Auch jenseits der Digital-Analog-Frage stellt Mennel aber die Tendenz fest, dass Filmschaffende sich wieder vermehrt an der Vergangenheit orientieren. Digitale Bilder sind unglaublich scharf und analytisch, schon fast realer als real. Das kann man für sehr detailreiche Aufnahmen etwa von Landschaften nutzen. Möchte man sich aber aufs Wesentliche konzentrieren, muss man sich jede Ungenauigkeit erkämpfen», sagt der Kameramann von Filmen wie «Näbelgrind» und «Pédaleur de charme». Da hat der Film einen ganz anderen Reiz. «Analoger Film verzeiht wahnsinnig viel», meint auch Richard Grell. Will heissen: Filmemulsion gibt Hauttöne vielleicht nicht hundertprozentig naturgetreu wieder, verwischt allenfalls die eine oder andere Schattierung. Diese Ungenauigkeit könnte man Schwäche nennen, doch Mennel und Grell sprechen von «Charme» und «Charakter»: «Was auf Film gedreht ist, sieht einfach wunderschön aus», sagt Pierre Mennel.

Da können Technikfreaks also noch lang die technischen Daten digitaler Kameras herunterbeten: Gerade das, was manche dem Analogen als Schwäche auslegen wollen, halten andere für seine Stärken. Gerade, weil er sich anders verhält als ein digitaler Sensor, will und will der analoge Film einfach nicht verschwinden.

Keine Zukunftsängste

Steht das Analoge also vor dem grossen Revival? «Das glaube ich eher nicht», sagt Richard Grell, «aber das Interesse nimmt wieder etwas zu.» Er habe deshalb immer wieder Kund_innen, die sich an der chemischen Filmerei versuchen möchten. So entstehen vor allem Werbefilme, die sich an ein junges Publikum richten und an die Filterästhetik von Instagram anknüpfen. Im Spielfilmbereich seien die Kameraleute dagegen zurückhaltender, weil ihnen oftmals die Erfahrung mit grösseren Projekten fehle. «Wenn man analog filmt, muss man wissen, was man tut», bestätigt Pierre Mennel. Denn wer analog dreht, kann nicht dauernd kontrollieren, wie ein Take geworden ist, und im Zweifelsfall jede Szene nochmals spielen lassen. Stimmt beispielsweise die Belichtung nicht, steht ein übersehenes Stativ im Bild oder verpasst ein_e Schauspieler_in unbemerkt den Einsatz, ist unter Umständen die Arbeit eines ganzen Drehtags ruiniert. Zudem dauert es in der Regel nochmals zwei Tage, bis die Streifen entwickelt sind und der Fehler bemerkt werden kann. In dieser Hinsicht ist die Arbeit mit Film ein grosses Risiko für eine Produktion. Auch wenn auf dem Weg ins Labor oder im Labor selbst etwas schiefgeht: Das belichtete Negativ ist ein Original. Geht es kaputt oder verloren, sind die Schäden irreversibel.

Aber wie immer lockt auch beim Filmen nichts so sehr wie das Risiko. Und genau darum wird das Zelluloid noch eine ganze Weile nicht von den Bildflächen verschwinden. Richard Grell jedenfalls macht sich keine Sorgen, dass ihm bald die Arbeit ausgehen könnte: «Die Magie, die in dieser Technik steckt, ist einfach viel zu faszinierend, als dass wir je die Finger davon lassen könnten.»

Erschienen im September 2020. © Filmbulletin 2020.