Ein einziger Roman, ein Leben lang

Mit dem sechsten Band seiner «Journale» bringt Paul Nizon sein grosses schriftstellerisches Projekt zu einem vorläufigen Abschluss.

Er habe «kein Programm, kein Engagement, keine Geschichte, keine Fabel, keinen Faden» vorzuweisen, gab der schreibende Held in Paul Nizons erstem Roman an. Dieses Buch, Canto, erschien 1963, also vor bald sechzig Jahren. Und noch immer hat sein ästhetisches Programm für den Autor Nizon nicht das Geringste an Gültigkeit verloren. Ja, womöglich hat er es nie so konsequent umgesetzt wie in seinen «Journalen», deren sechster Teil in diesen Tagen erschienen ist.

Die «Journale», das sind verstreute Erinnerungen, Künstlerporträts, Briefe und Romanfragmente, die Nizon in seinen Ateliers verfasst hat, um sich, wie er selbst es nennt, «warmzuschreiben». Es sind somit Fingerübungen; für sich allein genommen ohne grossen Wert. In ihrer Gesamtheit aber widerspiegeln sie Nizons Denken, Leben und Schreiben aufs Genaueste und in noch grösserer Detailliertheit als die Romane.

Mit ungebrochener Konsequenz

Liest man sich durch die Bände, wähnt man sich in einer der Schreibklausen dieses Sprachmenschen, für den die Welt nur dann Sinn ergeben kann, wenn sie in Worte zu fassen ist. Man tritt über die Schwelle und schaut Paul Nizon dabei zu, wie er den Alltag in Paris, das Geschehen in seiner Wahlheimat, zu Sätzen verdichtet und langsam in Literatur und damit wieder zurück in Leben verwandelt: «Es ist einfach so, dass für mich das tägliche Geschehen, d.h. alles, was ist und geschieht, nur zum Leben kommt und wirklich wird, wenn ich es sagen kann, wenn es Wort wird», schreibt Nizon im neuen Buch. «Ohne Wort die Leere, das Nichts. Das Leben ist eine Aufgabe an die Kunst.» Nur die Kunst macht das Leben lebenswert, und das Leben steht seinerseits im Dienst der Kunst, dies uns nichts Geringeres war und ist Nizons Kunstverständnis.

Gewiss, die Nizon’sche Sprachwelt hat sich über die Jahrzehnte nur unmerklich verändert. Die Themen, sofern es solche gibt, sind sich gleich geblieben. Da ist das Italienjahr mit einer römischen Affäre namens Maria. Da ist die unmögliche Liebesgeschichte zur 26 Jahre jüngeren Odile, da sind Freunde und Vorbilder wie Vincent van Gogh, Elias Canetti oder Max Frisch. Da ist der Sex, da ist Paris, in Nizons Augen das grösste Kunstwerk überhaupt. All das ist aus den Romanen mehr oder weniger bekannt. Das Stipendium, das Nizon für ein Jahr nach Rom gebracht hat, ist in Canto eingegangen, Odile war prägend für Das Jahr der Liebe sowie Das Fell der Forelle, und seine für ihn so prägende Beschäftigung mit Vincent van Gogh hat der Kunsthistoriker Nizon in Stolz ausführlich beschrieben. Und Paris spielt seit dem Jahr der Liebe ohnehin immer eine tragende Rolle. Die Affäre mit Maria hätte den Stoff für den letzten Roman, Der Nagel im Kopf, abgeben sollen, doch aus diesem wird nun voraussichtlich nichts mehr. Stattdessen fand das bisherige Material Eingang in das «Journal».

Geschichten, Fabeln oder einen Faden haben die «Journale» in ihren über 1500 Seiten also genauso wenig zu bieten wie die Romane. Doch von einem Autofiktionär Neues zu erwarten, der sich eine Karriere lang mit sich selbst beschäftigt hat, hiesse, zu viel erwarten. Stattdessen geht es in den «Journalen» im gleichen Stil weiter wie in den Romanen. Und gerade dieser Grund, die Tatsache, dass sie demselben radikalen Kunstverständnis entspringen wie die Romane, macht sie zu mehr als einem Nebenprodukt von Nizons literarischem Schaffen.

Wahlverwandtschaft mit Robert Walser

Die «Journale» lesen sich eben nicht wie eine Ergänzung zum Hauptwerk, sondern sie sind Vorbereitung und Weiterführung des immergleichen Projekts und damit integraler Bestandteil dieses einzigen Haupt- oder Gesamtwerks. In den «Journalen» skizziert Nizon seine Projekte, während sie noch im Entstehen begriffen sind, und er denkt weiter über sich nach, wenn sie längst, teils Jahrzehnte her, erschienen sind. Nichts ist somit jemals festgeschrieben, alles bleibt dynamisch und damit auch: fragil. Das wiederum passt bestens zu Nizons Unmut gegenüber allem, was nach endgültiger Erzählung oder Geschichte aussieht.

Dass eine Unterteilung seines Werks in Romane und Tagebücher damit eigentlich obsolet wird, darüber ist der Autor seinerseits sich natürlich absolut im Klaren: «Ich schrieb wie [Robert] Walser am immer selben Roman in der Selbstabbildungsakribie oder -neugierde», vermerkt er an einer Stelle. Erst vor diesem Hintergrund zeigt sich der wahre Wert der «Journale»: Man kann sie an beliebiger Stelle aufschlagen und ist mittendrin in diesem gigantischen Lebensprojekt. Es ist möglich, an irgendeiner Stelle weiterzulesen und sofort Bescheid zu wissen, gerade weil die Stoffe bekannt sind. Dazu kommt der unvergleichliche Stil: Nizons Sprachartistik ist ohnegleichen.

Wenn Paul Nizon in dem Dokumentarfilm, der letztes Jahr über ihn erschienen ist, behauptet hat, Der Nagel im Kopf sei der erste Roman, den er nicht zu Ende schreiben werde, stellt sich das jetzt also als kleine Ungenauigkeit heraus. In Wahrheit hat der Berner mit Jahrgang 1929 nämlich keinen einzigen Roman fertiggeschrieben, einen und denselben aber immer wieder um- und neugeschrieben. Und jetzt, mit dem letzten «Journal»-Band, der nun eben mit «Der Nagel im Kopf. Journal 2011-2020» übertitelt ist, kommt dieses Projekt zu einem vorläufigen Abschluss.

Bisweilen etwas allzu eitel

Einem Menschen ein Schriftstellerleben lang bei der Arbeit über die Schulter zu schauen, bedeutet natürlich auch die Verheissung, an diesem Leben bis zu einem gewissen Grad teilzuhaben. Über Paul Nizon ist schon in den Romanen viel zu erfahren, und in den «Journalen» sind die Einblicke häufig noch intimer. Da überrascht es nicht, dass man bisweilen auf Stellen trifft – und deren vor allem im letzten Band nicht zu wenige – wo die «Selbstabbildungsakribie» etwas allzu weit geht. So stellt beispielsweise das Altern das vielleicht einzige neue «Thema» der letzten zwanzig Jahre dar. Freilich ist es bei einem Mann mit Nizons Jahrgang verständlich, wenn ihn das Vergehen der Jahre besorgt, und ebensowenig verwunderlich ist, wenn mit zunehmendem Alter vor allen Dingen die Angst kommt, in Vergessenheit zu geraten, ist bei einem, der sechzig Jahre lang Aussenseiter und Geheimtipp blieb. Dass sich der Schweizer in seinen Tagebüchern ein weiteres Mal selbst der Bedeutung seiner Arbeiten versichert, mutet bisweilen aber etwas peinlich an, auch wenn er dazu allen Grund hat; schliesslich galt er in Frankreich eine Zeit lang als Anwärter für den Nobelpreis, der dann allerdings mit Peter Handke ein anderer Wahlpariser entgegennehmen durfte.

Wenn Paul Nizon etwa schreibt «Sicherlich bin ich aus der deutschsprachigen Literatur nicht mehr wegzudenken; das dürfte auch für den französischsprachigen Raum gelten» oder «plötzlich hat das hohe Alter wirklich zugeschlagen, fühle mich manchmal hilfsbedürftig, wenn ich auch vorläufig noch einigermassen mobil auftrete», dann erinnert das doch sehr an die Intimitäten, die Max Frisch – im Übrigen einer von Nizons frühesten Förderern, der ihm auch den Kontakt mit Siegfried Unseld von Suhrkamp vermittelt hatte – in den Entwürfen zu einem dritten Tagebuch ungefragt publik machte. Es fällt nicht immer leicht, solche Eitelkeiten zu ertragen, auch wenn sie in der Vielstimmigkeit scharfer Beobachtungen und wunderbarer Sätze nur Randnotizen darstellen.

Erschienen am 23. August. © buchjahr.ch 2021.